Fast wie im Traum

Es gibt sie, die besonderen Tage. Wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und das Universum es gut mit einem meint. Wenn man genau auf dem Platz ist, der für einen gedacht ist.

Wenn ich träume und mich daran erinnern kann, sind das meistens zwei immer sehr ähnlich ablaufende Geschichten. In manchen Träumen besichtige ich ein Auto, das mir taugt und werd dann im Schlaf oft sooo grantig, weil die Kiste durchgerostet oder ungepflegt ist, dass ich von meinem rasenden Herzschlag wach werde. Die meisten Träume aber drehen sich um mein ganz großes Hobby, das „Autospechteln“. Die Unterschiede zum klassischen Car-Spotting hab ich für alle Anfänger hier (-> Carspotter? Peinlich…) erklärt. Meistens wandle ich dabei durch die Straßen einer mir unbekannten Stadt und stoße auf ganze Straßenzüge voller sensationeller Autos. Leones und Charmants an jeder Ecke, dazwischen ein Pajero oder zwei und dahinter eine Tiefgarage voll mit Corona Mark IIs, Erstserien-Trooper und von mir aus auch mal ein Lancia oder Mercedes-Benz. Diese Träume bereiten mir in der Regel ein großes Wohlgefühl, wie es sonst nur ein Schoko-Soufflé an einem feucht-kalten Winterabend vollbringt.

Doppelt bitter, wenn die Realität wieder gnadenlos zuschlägt und einem bewusst wird, dass diese Träume ein Traum bleiben werden. Primär, weil die Zeit solcher Sichtungen von 1970er und 1980er Autos im herkömmlichen Straßenverkehr einfach vorbei ist. Vor 15 Jahren ist da noch deutlich mehr gegangen. Aber 2023?

Sprung nach Wien. Es ist der 19. November. Leichter Regen, kalt, feucht und windig. Ein typischer Spätherbst-Tag in der Hauptstadt. Ich hab ein paar Stunden Zeit und mach mich auf die Pirsch. Systematisches Scannen der Staßenzüge nach auffälligen Silhouetten zwischen den modernen Compact-SUVs. Könnte in dieser Gasse was dabei sein? Dort vorne links oder doch rechts rein? Beides möglich, aber das fünfte Auto in der Reihe dort hinten hat doch eine verchromte Zierleiste um die Heckscheibe, oder? Als ich vor über 13 Jahren mit meiner Autospechtel-Leidenschaft nach Wien übersiedelt bin, war das ergiebig.

Aber das ist lange her. Klima-Hysterie, Woke-Washing, Lastenrad-Hype und Parkplatz-Rückbau erledigen den Rest. Also erwarte ich nicht mehr allzu viel. Wenn mir was Spannendes unterkommt, bin ich froh. Wenn nicht, war´s ein schöner Spaziergang über die Strudelhofstiege zur Berggasse, von dort über die Börse in den Ersten Bezirk zum Hohen Markt und über die Freyung wieder retour Richtung Nussdorferstraße/Spitalgasse.

Aber plötzlich finde ich mich in meinem Traum wieder. Ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dass dieser „richtige Ort“ der Alsergrund an einem regnerischen Sonntag Vormittag im November ist, glaubt dir bloß keiner:

Ein Citroen CX Athena als Alltagsauto in französisch-korrektem Stadium des Verfalls. No ka Bemmerl. Sowas siehst du nur noch in Wien. Gut, das wird´s gewesen sein. Da kommt nichts mehr, heute. Oder?! Da vorne, ein paar Meter weiter, da steht ja auch was…

Ein stinkfader Jetta II, der von seinem Kennzeichen lebt. Kein EU-Balken, ausgebleichtes Wien-Wappen und als Wunschnummer mit klarer Vorliebe für die Oper. Das hochgradig peinliche „Opa 55“ siehst du in Kapfenberg. „Oper 55“ nicht überall.

Weil 2023 ist und auch die bis jetzt überlebenden 90er-Jahre-Kisten nicht ungewürdigt bleiben sollen, springe ich über meinen Schatten und halte in weiterer Folge auch einen frühen Citroen Xsara, einen Volvo 940 Polar, einen Daimler SIX und nicht einen, sondern zwei 210er Benze für die Nachwelt fest. Und wenn wir schon soweit sind, ist der Audi A2 auch erlaubt. Simma ned so.

Aber das wirds jetzt gewesen sein, oder? Weiter rein in den ersten Bezirk, vielleicht geht ja noch was, heute. Auch wenn ichs kaum glaube. Und dann schüttet das Schicksal sein Füllhorn weiter über mir aus und es geht Schlag auf Schlag.

Ein rostiges Saab 900 Cabrio, augenscheinlich ein Daily Driver. Kurz danach ein Land Rover Serie III. Aber kein normaler, sondern ein 109er Stage 1 V8. Ein taschentuchgepflegter Mazda 626 GD wundert da schon wieder mehr, genauso wie ein Jaguar XJ-S Convertible in Gold und direkt dahinter ein KIA Opi“Я“us 3.5 V6.

Pfuh, damit war wirklich nicht zu rechnen. Jetzt bin ich richtig in Fahrt. Die Schritte werden schneller, die Blicke hektischer, ich brauch mehr. Mehr vom Adrenalin, mehr vom Dopamin. Und dann stechen mir wieder die Helden des Alltags ins Auge. In salzhaltigeren Teilen Österreichs längst ausgestorben, im Wiener Zentrum noch existent. Bevor sie still und leise verschwinden, haben sie sich ein Foto verdient.

Wann habt ihr das letzte Mal einen Chrysler Stratus oder einen Voyager 3 in Topgepflegt gesehen? Einen der letzten echten Mitsubishi Colt, ganz ohne NedCar und Renault? Einen Cherokee XJ vor dem großen Facelift oder einen rostfreien Toyota HiAce Luxusbus mit Erstbesitzer-Kennzeichen? Na eben.

Und für die Mitglieder der „Glaubensbewegung Volkswagen“ ist auch noch allerhand dabei:

Neben dem „Oper55“-Jetta alleine drei Golf 2. Der schwarzbeblechte, frühe Braune sogar als „Carat“. Und wenn wir schon am Rathaus vorbei nach Hause marschieren, darf das bekannteste Wahrzeichen des Grätzels natürlich auch nicht fehlen:

Das kann schon was, hm? All diese grandiosen Sichtungen, die einen teilweise fast an ein inoffizielles Alltagsklassiker-Meeting glauben lassen, in nur 2 Stunden in ein paar Straßen zwischen dem Alten AKH und dem Hohen Markt. Auch mir als Kritiker der blinden, unreflektieren „#wienliebe“-Bewegung ringt das ein großes Grinsen ab. Wien gibt auch 2023 immer noch sehr viel her, wenn man mit offenen Augen durch die Straßen strawanzt. Fast wie im Traum.

Lukas

Veröffentlicht von Lukas

Mit Herz und Hirn - immer hinterm Lenkrad und am Puls der Straße.

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